Dissoziation kann als ein kreativer Versuch verstanden werden, ein schweres, manchmal kaum erträgliches Leben zu leben – und gleichzeitig kann sie später im Leben dazu führen, dass Menschen in dieser schweren Vergangenheit wie „feststecken“: sie enagieren und reenagieren traumatische Erfahrungen und Beziehungen. Der enaktive Ansatz ermöglicht ein tieferes Verständnis von Dissoziation und bietet vielfältige Behandlungsmethoden von (insb.) chronisch traumatisierten Menschen.
Enaktive Traumatherapie ist ein Ansatz zur Behandlung von chronischen traumabezogenen Dissoziationen der Persönlichkeit und basiert auf der Theorie der Strukturellen Dissoziation.
Enaktive Traumatherapie wird durch den enaktiven Ansatz in Philosophie, Psychologie und Biologie beeinflusst. In Hinblick auf diesen Ansatz sind traumatisierte Personen wie alle Menschen auch (1), verkörperte Lebewesen (Organismen), die in ihre Umwelt eingebettet sind (sog. „Organismus-Umwelt-Systeme“), (2) zielorientierte „Organismus-Umwelt-Systeme“, die in erster Linie bestrebt sind, ihre Existenz zu erhalten; (3) ursprünglich affektive Systeme, die bestrebt sind, Sinn zu stiften.
In diesem Licht kann Trauma als eine Verletzung eines gesamten menschlichen Organismus-Umwelt-Systems verstanden werden. Ihr Kern ist eine mangelnde Integration verschiedener dynamischer Sehnsüchte und Bestrebungen: bspw. die Sehnsucht, ein alltägliches Leben zu leben und vermeintliche Bedrohung zu vermeiden (insbesondere traumatische Erinnerungen), die Sehnsucht, die Integrität des Körpers zu verteidigen wie auch die Sehnsucht, Kraft und Macht zu erleben, um den unerträglichen Gefühlen der Ohnmacht zu entkommen - manchmal auch, indem in diesem Zusammenhang Täter*innen bis zu einem gewissen Grad nachgeahmt werden.
Bei dissoziativen Störungen zeigen sich diese nicht selten konflikthaften Sehnsüchte und Bestrebungen in Form von zwei oder mehr bewussten und selbstbewussten dissoziativen Subsystemen („dissoziativen Agens“), die ein eigenes Selbst-, Welt- und Selbst-als-Teil-dieser-Welt-Erleben haben.
Abgesehen von Phobien vor den traumatischen Erinnerungen und Phobien der dissoziativen Agens untereinander, entwickeln viele Menschen, die von ihren Eltern und / oder anderen wichtigen Bezugspersonen vernachlässigt, misshandelt oder missbraucht worden sind, Phobien der Bindung und des Bindungsverlusts. Infolgedessen werden traumatische Erlebnisse und Erinnerungen sowie dissoziative Anteile nicht integriert und bestehen als sensomotorische, affektiv aufgeladene Erfahrungen, die fortwährend wiederholt werden.
Enaktive Traumatherapie ist das Bemühen dieses integrative Defizit zu heilen: Dazu versuchen Patient*in und Therapeut*in in einem gemeinsamen Bestreben zusammen Ergebnisse zu erzielen, indem sie neue Handlungen und Bedeutungen erzeugen. Ihre Zusammenarbeit und Kommunikation ähneln dem Tanzen: Es braucht Tempo, Abstimmung, Timing, Sensibilität für Gleichgewicht, Bewegung und Rhythmus, Mut sowie die Fähigkeit und Bereitschaft, zu folgen und zu führen. Es ist eine mitfühlende und engagierte Bemühung, das Bewusstsein auf Kommunikationsebenen zu bringen, die es erlauben, in für die Patient*innen machbaren Schritten, neue wohlwollende und heilende Erfahrungen entstehen zu lassen.
Ärztliche und psychologische Psychotherapeut*innen, Psychiater*innen, Pflegepersonal, Psychotherapeutische Heilpraktiker*innen mit Erfahrungen bzw. der Bereitschaft mit chronisch traumatisierten Menschen zu arbeiten
Nijenhuis, E. (2018). Die Trauma-Trinität: Ignoranz–Fragilität–Kontrolle: Enaktive Traumatherapie. Vandenhoeck & Ruprecht.
Van der Hart, O., Nijenhuis, E. R., & Steele, K. (2008). Das verfolgte Selbst: strukturelle Dissoziation und die Behandlung chronischer Traumatisierung. Paderborn: Junfermann.